„Sie saß am Wasser und lauschte dem, was nicht gehört werden konnte – bis die Stille zu ihr sprach.“
Etwas in Mia veränderte sich nach diesem Gespräch. Es war, als hätte sie eine Tür geöffnet, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte. Der Mann stand auf, nickte ihr leicht zu und ging einen schmalen Pfad hinunter, verschluckt von Grün und Schatten. Er nannte nie seinen Namen, gab keine Erklärung. Aber Mia erinnerte sich an ihn – nicht mit einem Namen, sondern mit einem Gefühl, das er hinterließ: Ruhe, und doch Wachsamkeit. Weisheit, ohne sich aufzudrängen.
Am selben Abend, als der Mond über den Dächern aufstieg, öffnete sie „Die Stimmen der Ungesehenen“ erneut. Das Buch fühlte sich anders an. Seine Seiten schienen zahlreicher als zuvor. Die Worte – dichter, lebendiger. Wo einst nur eine leere Seite war, stand nun ein neuer Abschnitt:
„Wer dem Flüstern des Windes lauscht, muss bereit sein, alles zu verlieren, was er zu wissen glaubt.“
Sie las es laut vor. Und dann geschah etwas Merkwürdiges – das Fenster öffnete sich von selbst. Der Wind stürmte in den Raum, blätterte durch die Seiten, als würde er etwas suchen. Eine Feder – weiß, fast durchsichtig – wirbelte durch die Luft und landete sanft in ihrem Schoß. Mia hob sie behutsam auf, als sei sie heilig.
Der Traum jener Nacht war wie kein anderer. Sie träumte, durch einen Wald zu wandern, erfüllt von Lichtern ohne sichtbare Quelle. Stimmen flüsterten ihren Namen, doch sie erschreckten sie nicht. Sie waren vertraut – beinahe verwandt. Im Herzen des Waldes fand sie einen See – still, spiegelglatt. Als sie sich näherte und sich über das Wasser beugte, sah sie nicht ihr Spiegelbild, sondern ein kleines Mädchen – sich selbst, längst vergessen. Ihre Augen waren traurig, und doch voller Staunen.
„Warum hast du mich hier zurückgelassen?“ fragte das Kind.
„Ich habe dich nicht verlassen,“ flüsterte Mia. „Ich habe nur vergessen, wie man zurückkehrt.“
Und dann wachte sie auf – mit Tränen in den Augen und einem Herzen, das von Wahrheit pochte.
Die Morgensonne strömte herein und tauchte ihr Zimmer in ein goldenes Licht. Der Traum verweilte noch. Sie nahm die Feder und legte sie in das Buch – zwischen die Seiten, auf denen sie zuletzt gelesen hatte. Dann, ohne zu wissen warum, folgte sie demselben Pfad, den der Mann am Tag zuvor gegangen war.
Der Weg führte sie zu einem Hügel mit Blick auf das Meer – weiter und unendlicher, als sie es je sich hatte vorstellen können. Dort, auf einem flachen Stein, ruhte eine kleine Holzschachtel. Kein Schloss, kein Name. Als sie sie öffnete, fand sie darin eine Notiz:
„Wahrheit ist kein Ziel. Sie ist eine Reise. Jeder Schritt, jeder Schmerz, jedes Lächeln – sie sind die Schlüssel. Jetzt bist du bereit.“
Unter der Notiz lag ein Medaillon, mit einem Baum graviert. Als sie es berührte, spürte sie Wärme – nicht körperlich, sondern tief und innerlich. Erinnerungen stiegen auf – verschwommen, aber real. Die Geschichten ihrer Mutter von unsichtbaren Welten. Ihr eigenes Lachen unter den Sternen. Die Kraft, die sie immer in sich getragen, aber im Namen der „Realität“ verborgen hatte.
Mia fühlte, wie der Wind sie umhüllte – nicht nur als Naturkraft, sondern als etwas Lebendiges, Bewusstes. Und diesmal wehrte sie sich nicht. Sie ließ sich führen.
So begann ihre wahre Reise. Keine Suche nach außen, sondern eine Rückkehr nach innen – zu sich selbst. Das Flüstern des Windes war kein Rätsel mehr, sondern ein Ruf – eine Erinnerung daran, dass man sich manchmal zuerst verlieren muss, um sich selbst zu finden.
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